Ruth Zetzsche: Die Idee, 2018 ein Projekt über die Dichterinnen Achmatowa und Zwetajewa zu machen, kam von mir. Ich kannte die Angst, kannte das Gefühl, sich nicht frei äußern zu können, kannte die Verbiegungen der Seele in einer Diktatur. Die Diktatur des Proletariats war auch in der DDR der Siebziger und Achtziger Jahre noch eine Welt voller Angst und Lüge. Wenn auch die Zeit (der Stalinismus der zwanziger bis fünfziger Jahre in der Sowjetunion), in der Achmatowa und Zwetajewa schrieben, ungleich schlimmer war. Ich identifizierte mich stark mit den Texten. Katja Hergenhahn, hier im Westen aufgewachsen, konnte viel besser Distanz halten. Das war sehr hilfreich, um für den Abend bei aller Traurigkeit und Verzweiflung doch ein sinnvolles dramaturgisches Konzept zu erstellen und in gewisser Weise Spielfreude und Vergnügen an Text und Musik zu bewahren. Im März 2019, beinah 30 Jahre nach der Wende fand die Premiere statt.
Spätestens bei unserem zweiten Projekt „Orpheus in der Oper – ein Musiktheaterstück für Kinder“, wurden die unterschiedlichen Prägungen durch unsere Herkunft spürbar und hatten durchaus Einfluss auf das Ergebnis. Für mich als ostdeutsche Sängerin ist das Thema Emanzipation anders wichtig als für die westdeutsche Künstlerin. Die Frage also, wie man einen Text für ein Theaterstück schreibt, welche Informationen man auswählt, wie man mit bestimmten Fragestellungen umgeht, wird man dank unterschiedlicher Erfahrungen sehr verschieden beantworten. D.h., auch bei einem Projekt, in dem wir uns zum Teil mit 400 Jahre alter Musik, mit Künstlern aus drei Jahrhunderten, also scheinbar mit unpolitischen, nicht mit unserer Zeit verbundenen Fragestellungen beschäftigten, führten wir intensive Diskussionen, in denen unsere Herkunft eine Rolle zu spielen schien.
Deshalb sind wir nun bei der Frage angelangt, was eigentlich den Unterschied ausmacht? Sind es zwei Einzelpersonen, die zufällig so unterschiedlich sind? Ist es unsere Herkunft? Und wie sieht es bei anderen aus? Woran kann man die Unterschiede wirklich erkennen? Ist die Ich-Bezogenheit gegenüber einem stärker vom Wir-Geprägten das Charakteristische?
Katja Hergenhahn: Der künstlerische Austausch zwischen Ost und West begleitet mich bereits seit den 90er Jahren.
Gleich nach der Wende 1990 wurde die „Hessisch-Thüringische Theaterwerkstatt“ ins Leben gerufen, zu der ich mit meinem ersten Theaterensemble eingeladen wurde. Über 4 Jahre lief dieses mehrtägige Begegnungs- und Austauschformat für junge Theaterkünstler:innen, bei dem in gemeinsamen Workshops Theatermethoden erprobt und anschließend Stücke der jeweils eingeladen Gruppen gezeigt wurden. Das Format fand wechselweise in Thüringen und Hessen statt. Ich habe dort sowohl als Künstlerin teilgenommen, als auch über diesen Austausch in meiner Magisterarbeit geschrieben. Die „Hessisch-Thüringische Theaterwerkstatt“ sollte ermöglichen, eine Achse von Ost nach West und umgekehrt zu schlagen, Vorurteile zu entkräften, sich ästhetisch zu begegnen und miteinander künstlerisch zu arbeiten. Das Theater hatte sich in den letzten Jahrzehnten vor und hinter dem Eisernen Vorhang unterschiedlich entwickelt, dies galt es nachzuvollziehen, zu verstehen und produktiv zu machen. Die vierte Ausgabe stand z. B. unter dem Motto »Immer das Theater mit den(m) Fremden«.
Erst viel später, durch meine Arbeit als künstlerische Leitung des MADE.Festival entstand der zweite Austausch mit Thüringen. Zusammen mit meiner Kollegin wurden wir 2014 in die Jury des Avant Art Festival nach Thüringen berufen. Hieraus entstand weiterhin eine Gastspiel-Kooperation zwischen Hessen und Thüringen bzw. zwischen den beiden Landesfestivals. 2014 bis 2017 wurde jährlich ein Gastspiel aus Hessen nach Thüringen entsandt. Gerne hätten wir diese Partnerschaft weiter vertieft und ausgebaut, aber hier fehlten uns vor allem die Mittel.
Erst durch die „Corona-Krise“ konnten wir ein weiteres Mal an einem Austauschprojekt weiterarbeiten. So entstand das leider nur über zwei Jahre laufende Projekt „Brückenschlag Hessen-Thüringen“, gefördert über Bundesmittel (#TakePlace). Im ersten Jahr 2020 wurde die jeweilige Festivalarbeit beider Länder evaluiert und mit weiteren Experten unter die Lupe genommen. 2021 war eine Vertretung von Avant Art zu Gast beim MADE.Date, dem Netzwerktreffen der hessischen freien Theaterszene. Hier wurden Zukunftsperspektiven geschmiedet und neue Anträge gestellt u.a. für das Residenzprogramm MAKE.ART zur Begegnung und gemeinsamen künstlerischen Arbeit von Ost- und Westkünstler:innen. Leider wurde der Antrag nicht bewilligt.
Da Ruth Zetzsche und ich nun schon seit 2018 ein „Ost/West-Bündnis“ im kleinen Format bilden, dies aber nie zum Thema machten, war es mir ein großes Anliegen, dass wir uns bei unserem nächsten gemeinsamen Projekt mit „Ost/West“ inhaltlich auseinandersetzten.